Written by H. Petersen

Der ERP-Auswahlprozess – eine Analyse zur Auswahl des richtigen Anbieter (ex ante)

In diesem Eintrag wird die Voranalyse und Bewertung einer ERP-Implementierung anhand eines ausführlichen Beispiels veranschaulicht. Ziel ist es, dem Leser einen angemessenen und verständlichen Eindruck vom Bewertungsprozess zu vermitteln, der aus der Funktionsanalyse, der Risikoanalyse und der Kosten-Nutzen-Analyse besteht.

-Teil 1-

Vorstellung der Beispielfirma

Die BS GmbH ist ein international tätiges Unternehmen, welches Werkzeuge für die Spritzgussfertigung herstellt. Der geografische Markt ist aufgeteilt in Europa, USA und China. Der Großteil von 50% des Umsatzes wird durch die Niederlassungen in Europa erzielt; die anderen beiden teilen sich den Anteil zu jeweils 25%.

Für jeden der drei Märkte gibt es eigene Produktionsstätten, so beispielsweise für den europäischen Markt in Deutschland und Frankreich. Die Herstellungs- und Planungsprozesse sind weltweit identisch. Die kunden- und lieferantenbezogenen Prozesse sind jedoch auf die lokalen Kulturen angepasst und daher unterschiedlich. Aufgrund länderspezifischer Anforderungen gilt dies auch für die Finanzprozesse. Der Hauptsitz mit der für das gesamte Unternehmen zuständigen IT ist in Deutschland. Neben den 6 Produktionsstätten verfügt das Unternehmen über 30 Vertriebsbüros weltweit.

Systemstruktur Anwendungssysteme

Für die Erstellungsprozesse wird eine eigenentwickelte Individualsoftware verwendet, die sowohl die Produktionsprozesse als auch Dispositionsplanung und die Lagerwirtschaft abbildet. Die Software wird aus Deutschland gewartet und an die Niederlassungen gegen eine Nutzungsgebühr bereitgestellt.

Der Bereich Finanzen wird länderspezifisch über eine Standardsoftware eines amerikanischen Anbieters abgebildet. Upgrades sind pro Land individuell umzusetzen. Aufgrund der relativ komplexen Organisationsstuktur des Hauptsitzes wurde dies – bis auf die gesetzlich erforderlichen – die letzten fünf Jahre ausgesetzt, sollte aber so bald wie möglich erfolgen.

Die HR-Abteilungen der Fertigungsstandorte nutzen lokale Lohn- und Gehaltsabrechnungssysteme. Die kleineren Vertiebsniederlassungen haben diese Prozesse ausgelagert.

Der chinesische Produktionsstandort hat vor einem Jahr im Zuge seiner Umstrukturierung ein neues ERP-System implementiert. Dadurch konnte ein Kennzahlensystem erstellt, Informationstransparenz in der Fertigung erhöht und die Erstellung von Finanzberichten deutlich verbessert werden. Durch die korrekten Informationen in der Logistik (wie korrekte Lagerbestände, Berücksichtigungen von Durchlaufzeiten und Lieferzeiten von Zulieferern usw.) konnte zudem die Fertigung optimiert werden.

Die Prozesse in Deutschland (für Europa) und den USA können jedoch deutlich verbessert werden. Da sowohl die Konsolidierung und Erstellung von Finanzberichten sehr aufwändig als auch die Fertigungsprozesse historisch gewachsen sind. Die Anbindung neuer Maschinen ist sehr aufwändig und auch die Datenqualität und Datenintegrität ist nicht im notwendigen Maße gegeben. Zudem ist die Wartung der Individuallösungen sehr arbeitsintensiv.

Die Geschäftsführung beschließt ein Projektteam zur Analyse eines neuen ERP-Systems aufzustellen und ernennen eine Projektleiterin des Hauptsitzes. Ihre Aufgabe ist die Analyse inkl. einer Funktionsanpassungsanalyse, einer Risikoanalyse und einer Kosten-Nutzen-Analyse, welche nach vier Monaten als Entscheidungsgrundlage für die mögliche Einführung einer neuen Software dienen soll.

Die Projektleiterin beantragt die fachliche Unterstützung des Betriebsleiters Deutschland und USA, des europäischen Controllers sowie den verantwortlichen Manager für die Beschaffung. Dieses Team ist für den Zeitraum von vier Monaten bewilligt.

Vor Beginn der Analysephase untersucht die Projektleiterin die maßgeblichen Grundsätze das Evaluierungsprojekt. Diese strukturiert sie nach Strategie für die Auswahl von Lieferanten, die Beschaffungsgrundlage für die Aufgabenverteilung zwischen Implementierungspartner und eigenes Unternehmen (u.a. Mitwirkungspflichten), Modellierungs- und Dokumentationsvorgehen und den möglichen Go-Live-Strategien.

Funktionale Analyse

Ziel der Funktionsanalyse ist es zu bestimmen, wie der ERP-Funktionsumfang, die Datenintegration und die Unterstützung für Best Practices angewendet werden können, um die Prozesse in der Organisationen zu verbessern. Bei dieser Analyse wird jeder Kernprozess detailliert betrachtet, um festzustellen, ob er zum ERP-System passt oder ob Prozess- oder Softwaremodifikation erforderlich sind. Der Fokus liegt auf Anbieter, die den eigenen Zielmarkt bedienen, um möglichst viele Standardfunktionen zu nutzen und weniger Modifikationen programmieren zu lassen. Ein weiterer Vorteil ist zudem die Branchenexpertise des Anbieters aufgrund seines Marktfokuses.

Für die funktionale Anforderungsanalyse benötigt der ERP-Projektleiter ein Team, in dem Kenntnisse über die Unternehmensprozesse, das ERP-System und die Softwareentwicklung vorhanden sind. Daher wird ein Team mit sechs Mitgliedern zusammengestellt, das einen Monat lang auf Vollzeitbasis zusammenarbeiten wird. Die ersten beiden Mitglieder des Teams sind die Buchhaltungsleiter aus Deutschland und Frankreich, den größten Niederlassungen in Europa. Zwei weitere Mitglieder des Teams stammen von den Implementierungspartnern ABEL und BEBEL. Einerseits bringen die externen ERP-Berater ABEL und BEBEL Kenntnisse über das ERP-System in das Team ein. Andererseits können die Berater während ihrer Teilnahme Informationen sammeln, die sie benötigen, um ein gutes und vollständiges Angebot für die vollumfängliche Implementierung zu erstellen, was für die Implementierungspartner (ABEL und BEBEL) von Vorteil ist. Die letzten beiden Mitglieder des “Functional ERP-Teams” sind der Anbieter der Serverumgebung und ein Softwareentwickler der IT-Abteilung von der BS GmbH. Der Projektleiter der Funktionsanpassungsanalyse ist eines der Mitglieder des Bewertungsteams.

GeschäftsprozessSub-ProzessERP-Standard [j/n]Prozess Modifikation [j/n]Software Modifikation [j/n]
Prozess AUProzessjjn
Tabelle 1 Funktionsanpassungsanalyse

Alle logistischen Prozesse in Europa sind identisch mit denen in den USA. Diese wurden einheitlich in BPMN2.0 und einer Prozesslandkarte modelliert. Im Gegensatz zu den Logistikprozessen unterscheiden sich die Finanzprozesse in Europa erheblich von denen in den USA. Für die Finanzprozesse muss daher eine detaillierte Funktionsanpassungsanalyse für die Standorte in Europa durchgeführt werden. In der ersten Woche der Funktionsanpassungsanalyse wird eine Liste der relevanten Finanzprozesse erstellt. Das Projektteam unterscheidet 38 Teilprozesse, die in Tabelle 1 (Beispielhaft) aufgeführt sind.

Nachdem die Liste (Tabelle 1) erstellt wurde, erstellt das Projektteam detaillierte Beschreibungen der einzelnen Prozesse visuell in BPMN2.0.
Anhand der detaillierten Teilprozessbeschreibungen untersucht das Projektteam, wie jeder Teilprozess im ERP durchlaufen werden kann. Nach dieser Analyse können 31 Prozesse im ERP-System so modelliert werden, dass eine perfekte Übereinstimmung zwischen dem aktuellen Geschäftsprozess und dem vom neuen ERP unterstützten zukünftigen Prozess besteht. Für die anderen acht Teilprozesse ist keine perfekte Anpassung verfügbar, und zusätzliche Analysen sind erforderlich. Diese müssen konzeptionell ausgearbeitet und technisch detailliert beschrieben werden. Die letzte Woche der Funktionsanpassungsanalyse wird vom Projektteam verwendet, um die Folgen dieser Fehlanpassungen abzuschätzen.

Risikoanalyse

Ziel der Risikoanalyse ist es, die Chance auf eine erfolgreiche ERP-Implementierung zu erhöhen, indem wichtige Erfolgsfaktoren und Risiken identifiziert und bewertet werden. Für wichtige Erfolgsfaktoren und signifikante Risiken müssen risikomindernde Maßnahmen definiert und deren Kosten und Nutzen geschätzt werden.

Für die Risikoanalyse benötigt der Projektleiter ein Team, in dem Risikomanagementkenntnisse, Projektmanagementerfahrung und Kenntnisse der Geschäftsprozesse vertreten sind. Er bildet ein Team von fünf Mitgliedern, die drei Wochen lang am selben Ort zusammenarbeiten werden. Das Wissen über das Risikomanagement wird vom internen Prüfer der BS GmbH beigesteuert. Die Erfahrung im Projektmanagement wird von einem Teammitglied eingebracht, das bereits eine MES-Implementierung erfolgreich durchgeführt hat. Die anderen drei Mitglieder verfügen alle über langjährige Erfahrung in ihrem Fachgebiet: Der Leiter der Fabrik in Frankreich kennt die Vor- und Nachteile aller Herstellungsprozesse, der Manager-Kundendienst in Deutschland ist mit Auftragsannahme- und Verkaufsprozessen bestens vertraut. Der Accounting Manager aus Deutschland ist Spezialist für Finanzprozesse. Das Risikoanalyseteam wird von einem der Mitglieder des Ex-ante-Bewertungsteams, dem europäischen IT-Entwicklungsleiter, geleitet.
In der ersten Woche der Risikoanalyse identifiziert das Team, welche wichtigen Erfolgsfaktoren und Risiken in die Analyse einbezogen werden. Laut Projektteam sind folgende Risiken besonders zu betrachten (eine eingehendere Analyse ist erforderlich).

“Schlüsselfaktor” oder “Risiko”
SchlüsselfaktorTop-Management = Projektsponsor
Support durch C-Level
permanente Kommunikation
RisikoKostenüberschreitung für ERP-Implementierungspartner
Probleme während des Go Lives
Risiko-Analyse

O.g. ist eine Übersicht über die wichtigsten Erfolgsfaktoren und Risiken beispielhaft dargestellt. Das Team diskutiert zunächst die kritischen Erfolgsfaktoren, die für den Erfolg des Implementierungsprojekts entscheidend sind. Um die Erfüllung der kritischen Erfolgsfaktoren zu gewährleisten, schlägt das Team eine Reihe von Maßnahmen vor. Für den ersten Faktor, die Unterstützung des Top-Managements, erwartet das Team, dass bereits ein hohes Maß an Engagement und Unterstützung durch das US-Top-Management besteht und dass keine zusätzlichen Maßnahmen erforderlich sind. Dies liegt daran, dass es für das US-Top-Management wichtig ist, dass die ERP-Implementierung in Europa erfolgreich ist und die kürzeren finanziellen Abschlusszeiten realisiert werden. Das europäische ERP-Implementierungsprojekt muss mit vielen anderen Projekten um die Aufmerksamkeit und Unterstützung des European Board konkurrieren. Um das Engagement zu gewährleisten, wird der Europäische Vorstand während der gesamten ERP-Implementierung zu einem vierteljährlichen ERP-Fortschrittsmeeting eingeladen. Zu jedem Fortschrittsmeeting wird auch ein externer ERP-Experte eingeladen. Das Projektteam schätzt, dass für die Fortschrittsbesprechungen ein Budget von 10 000 EUR erforderlich ist.
In Bezug auf Sponsoring steht das Projektteam der Beziehung zum europäischen CFO positiv gegenüber. Er interessiert sich für das Projekt und priorisiert es gegenüber anderen Projekten und Aktivitäten. Er trifft ebenfalls die erforderlichen Entscheidungen und fungiert als Bindeglied zwischen dem ERP Evaluierungsprojektteam und dem Europäischen Vorstand. Das Projektteam ist zuversichtlich, dass die Verantwortung für das Erreichen der Implementierungsziele in guten Händen ist, wenn der CFO während der ERP-Implementierung weiterhin als Sponsor fungiert.
Schließlich weiß das Projektteam, wie wichtig eine kontinuierliche Kommunikation mit allen Beteiligten während der ERP-Implementierung ist.

Kosten-Nutzen-Analyse

Die Kosten-Nutzen-Analyse ist der letzte Schritt bei der Vorab-Bewertung. Ziel der Analyse ist es, einen Einblick in die für die ERP-Implementierung erforderlichen Investitionen und den Nutzen zu erhalten, den ein Unternehmen damit erzielen kann. Sie dienst als Entscheidungsgrundlage für die weiteren Schritte bei der Systemeinführung.

[folgt in Teil 2]